Die Hauptrolle in The Public – Ein ganz gewöhnlicher Held (2018) spielt die reale Hauptbibliothek von Cincinnati. Hier ist diese Liebeserklärung an die Institution der öffentlichen Bibliothek auch gedreht worden.
Offene Räume voll mit Bücherregalen, die sich über mehrere Etagen rund um ein Atrium erstrecken. Computerarbeitsplätze für die Nutzer, Kursangebote, Leseförderung, Lesesäle, Arbeitstische. Mittendrin: die Servicetresen der Auskunftsbibliothekar*innen. Hier fragen Menschen von Jung bis Alt nach allem Erdenklichem: Einer Farbfotografie von George Washington, einem Globus der Erde (im Verhältnis 1:1) oder einer Liste von Gesetzen, die man übertreten könnte, um für ein paar Monate ins Gefängnis zu kommen.
Es ist Winter; ein Gefängnisaufenthalt würde für einige der Obdachlosen, um die es in diesem Film mit einer Mission geht, regelmäßiges Essen und ein warmes Dach über dem Kopf bedeuten.
Der verhuschte Bibliothekar Stuart Goodson (Emilio Estevez, auch Buch & Regie) leitet den Bereich Sozialwissenschaften (sic!). Gerade sitzt ihm der Bezirksstaatsanwalt im Nacken, weil Stadt und Bibliothek mit einer Klage konfrontiert werden, die Gutmensch „Good Son“ der Diskriminierung bezichtigt (weil er einen obdachlosen Besucher aus Gründen der Bibliothek verwies). Er kennt viele der Obdachlosen beim Namen, die vor dem Gebäude Morgen für Morgen schon vor der Öffnungszeit anstehen, um die Toilette zu nutzen und minimalste Körperpflege zu betreiben. Oder sich den Tag in den Lesesälen zu vertreiben, wo es warm und trocken ist. Seine Arbeit wird als die eines Sozialarbeiters[1] gezeigt: Mit dem Kollegen vom Wachschutz (Ernesto Ramirez) muss er sich um einen Mann kümmern, der sich an der großen Fensterfront nackt ausgezogen hat und lauthals singt. Als eines Morgens einer der regelmäßigen Besucher nicht auftaucht, während gleichzeitig in der Nacht ein namenloser Obdachloser auf einer Bank vor der Bibliothek erfroren ist, versucht Stuart herauszufinden, ob es sich um „seinen“ Klienten Caesar handelt. Zwischen obdachlosen Besuchern und anderen, die sich von jenen olfaktorisch gestört fühlen, vermittelt er ruhig und überlegt.
Die öffentliche Bibliothek, das wird klar, ist ein Ort für alle Bürger*innen, der niemanden ausgrenzt und das Aufenthaltsrecht keines Einzelnen in Frage stellt. Und wo kein Ansinnen und keine Frage zu blöd ist, egal wer sie stellt.
Herausforderung für die Open-House-Policy
Die offene Tür dieser uramerikanischen Institution, dieser „letzten Bastion der Demokratie“, wird geprüft, als eines eisigen Tages die öffentlichen Schutzunterkünfte für Obdachlose überfüllt sind und eine Gruppe von Männern unter der informellen Führung von Jackson (Michael Kenneth Williams) beschließt, die Bibliothek abends nicht zu verlassen, sondern die Nacht in ihrem Schutz zu verbringen. Jackson bespricht das Vorhaben mit Stuart, der wiederum mit seinem Boss, Bibliotheksdirektor Mr. Anderson (Jeffrey Wright) redet – der dies natürlich nicht gestatten will. So wird aus dem Vorhaben eine Besetzung: Die Obdachlosen verbarrikadieren sich im Social-Science-Bereich, schieben Bücherregale vor die Eingangstür. Und draußen wird spekuliert, ob die Bibliothekar*innen drinnen nun Geiseln sind, die befreit werden müssen.
© Cedarvale Pictures, Koch Films; via moviepilot.de
Zu ihnen gehört Kollegin Myra (Jena Malone), die lieber in der Belletristik eingesetzt werden würde (was ihr Vorgesetzter Stuart bisher 3x abgelehnt hat), immer mit einem Exemplar von John Steinbecks „Früchte des Zorns“ rumläuft und die Sorge um den CO2-Fußabdruck lauthals auf der Zunge führt. Und auch Bibliotheks-Boss Anderson gehört dazu: Nachdem er ein paar desillusionierende Gespräche mit politisch Verantwortlichen geführt hat, wechselt er die Seiten und geht hinter die Linie.
Auftritt: ein lebenskluger Detective (Alec Baldwin), dessen Sohn selbst auf der Straße lebt (und natürlich in dieser Besetzergruppe zu finden ist), ein mediengeiler Staatsanwalt (Christian Slater), der Bürgermeister werden will und die Polizei anweist, die Bibliothek zu stürmen, eine faktenaverse TV-Reporterin (Gabrielle Union) auf der Jagd nach einer reißerischen Story, sowie Nachbarin und Facility Managerin Angela (Taylor Schilling), die feststellt, dass heute wohl kein guter Tag ist, um sich einen Bibliotheksausweis ausstellen zu lassen.
Über einen naiven Satz Angelas lachen sicher alle, die beruflich mit Büchern zu tun haben:
„It must be really nice to have a job where you get to sit around and read all day.“
„Es muss wirklich toll sein, so ein Job, wo du nur rumsitzt und Bücher liest.“ (Synchronfassung)
Semidokumentation über die öffentliche Bibliothek
„The Public“ ist ein semidokumentarischer Film, der vor allem das Bibliotheksgebäude selbst inszeniert, die Bibliotheksarchitektur, die deckenhohen Bücherwände, die Einrichtung, all die kleinen Hinweise auf Funktionen und Nutzen für das Leben seiner Nutzer*innen (und somit das Land selbst). Er verbindet dies mit einem Plot, der einzelne Menschen, Figuren, Charaktere aus der für uns Wohnende sonst immer anonymen Masse „Obdachlose“ herausschält und auf deren Bedürfnisse und Herausforderungen aufmerksam macht. Ein Film mit einem sozialen Anliegen. Allein dafür verdient er 5 Sterne (und an der Charakter-(Über-)Zeichnung oder dem Plot mag ich nicht rummeckern).
Am schönsten ist „The Public“ sowieso in seinen real-dokumentarischen Augenblicken: Wenn zahllose Stimmen im Bild oder im Off sich an die Auskunftsbibliothekar*innen wenden, um gar nicht nach einem bestimmten Buch[2], sondern nach einer Idee, einem Gedanken zu fragen. Weil sie lernen wollen, weil sie neugierig sind, weil Menschen sich einfach mit den unglaublichsten Dingen beschäftigen. Und all dies findet man hier: in einem Buch.
Für wen?
- Bibliothekar*innen, Informationserschließer*innen, Büchermenschen;
- Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen, Pädagog*innen;
- Beschäftigte und Ehrenamtliche, die sich im nicht-kommerziellen Sektor um andere kümmern, speziell um besonders herausgeforderte Gruppen (etwa Geflüchtete, Wohnungslose, Opfer von Gewalt, psychisch Erkrankte u.a.) oder in der Pflege;
- Repräsentant*innen und Beschäftigte des öffentlichen Sektors, kommunaler Verwaltungen und der Polizei, die sich mit ihrer Rolle beschäftigen.
Zum Weiterlesen:
Regisseur Emilio Estevez wurde durch einen Artikel inspiriert, den Chip Ward, 2007 soeben in Rente gegangen und zuvor umtriebiger stellvertretender Leiter des Salt Lake City Public Library System, gepostet und der in den US-Medien für Furore gesorgt hatte: What They Didn’t Teach Us in Library School: The Public Library as an Asylum for the Homeless. Estevez erwarb kurz danach die Filmrechte an dem Stoff – es sollte zehn Jahre dauern, das Projekt zu realisieren.
Chip Ward, How the Public Library Became Heartbreak Hotel
Der Blog Chip Ward Essays von Chip Ward, der nicht nur Bibliothekar, sondern auch Aktivist ist. Hier beschreibt er die medialen Folgen seines Artikels von 2007.
Die Website Hunger, Homelessness & Poverty Task Force – SRRT/ALA der American Library Association (ALA), die einen runden Tisch zur sozialen Verantwortung betreibt.
Der Bibliothekar Chip Ward heute
Zum Weiterlesen II: Die Bibliothek im Film
Dario D’Alessandro: „Hauptrolle: Bibliothek. Eine Filmographie“ Innsbruck, 2002.
Der italienische Bibliothekar und Filmfreund D’Alessandro versammelt in diesem Buch quasi alle Szenen aus der internationalen Filmgeschichte, die in einer Bibliothek spielen oder worin ein*e Bibliothekar*in vorkommt. Er analysiert dabei Stereotypen und macht auf bemerkenswerte Ausnahmen aufmerksam. Leider endet das Werk um die Jahrtausendwende. Weswegen die Liste von Bibliotheksfilmen nun digital fortgeführt werden muss.
The Public (Ein ganz gewöhnlicher Held). USA, 2018 (Kinostart in Deutschland 25.07.2019, in Großbritannien: 21.02.2020). Buch & Regie: Emilio Estevez
[1] Eine Filmreview von „The Public“ im US-Fachmagazin „The New Social Worker“ nimmt die Sozialarbeiter-Qualitäten von öffentlichen Beschäftigten in den Blick, die gar nicht primär Sozialarbeiter*innen und hierfür entsprechend nicht ausgebildet sind – zum Beispiel Bibliothekar*innen: https://www.socialworker.com/feature-articles/reviews-commentary/the-public-film-review-library-humanity-confronts-societal-indifference/
[2] Doch, das auch. Der Leser weiß nicht mehr den Titel und auch nicht den Autor, er weiß nur noch, dass es rot war und im Regal weit oben stand.