Am Empfangstresen einer Behörde der Stadtverwaltung von Tokio steht eine Gruppe aufgebrachter Frauen: Durch rasante Nachverdichtung im Stadtviertel ist der Grundwasserspiegel gestiegen und eine ehemalige Rasenfläche, auf der Kinder spielen konnten, zu einer Pfütze mutiert. Hier wimmelt es nun vor krankheitsübertragenden Moskitos, die Mütter wissen nicht, wo sie ihre Kinder spielen lassen sollen, an die frische Luft müssen sie schließlich.
Der Beamte hinter dem Tresen erklärt sich für nicht zuständig: Dies hier sei das Park- und Grünflächenamt, Verursacher sei aber die Wohnungsbauverwaltung. Die Frauen ziehen weiter und bringen dort ihre Geschichte vor. Nein, da könne man nichts machen, es handele sich ja um Wasser, da sei die Wasserbehörde zuständig. Diese befindet, es handele sich schließlich um ein Gesundheitsthema, die Frauen sollen bei dieser Behörde vorsprechen.
Nicht zuständig, nicht zuständig, nicht zuständig.
Die Müttergruppe als Chor: Als grotesk-lustspielartige Intermezzi und roter Faden ziehen sich die Erlebnisse der aufgebrachten Mütter mit ihrer bürgerfernen Stadtverwaltung durch Ikiru – Einmal wirklich leben (1952). Die nicht zuständigen Behörden, die jeweils auf andere verweisen, statt sich des Themas und der Bürger*innengruppe einfach anzunehmen und erst später zu schauen, wie den Frauen geholfen werden kann, kommen uns selbst heute in unseren westlichen, professionell organisierten und mit gut ausgebildetem Personal besetzten öffentlichen Verwaltungen manchmal bekannt vor.[1] Diese Szenen sorgen für die aktuelle Anschlussfähigkeit dieses Klassikers aus der Nachkriegszeit von Akira Kurosawa – und zahlreiche Lacher.
Dabei geht es in diesem Film um das Sterben. Vielmehr geht es darum, welche Fragen sich der Beamte Kanji Watanabe (Takashi Shimura) im Angesicht des Todes stellt. Was hat er mit seinem Leben angestellt? Hat er es „richtig“ gelebt? Was wäre denn „richtig“? Kann er das jetzt noch nachholen? Wie?
Watanabe ist Abteilungsleiter einer städtischen Beschwerdestelle. Sein Arbeitsplatz ist ein Schreibtisch, eingerahmt von mächtigen Aktenbergen an den Wänden bis hinauf zur Decke. In dieser Behörde stirbt jedes menschliche Begehr auf Papier, das hier vor sich hin rottet. Watanabes Schreibtisch steht am Kopf mehrerer eng zusammengeschobener Schreibtische, an dem seine Mitarbeiter sitzen. Hier verwalten die Mitarbeiter effektiv: nichts. Sie brauchen Watanabe, weil ohne seinen Stempel kein Vorgang wirklich fertig ist, und dieses Stempeln ist das Einzige, was Watanabe tut.
Verebbtes berufliches Engagement
In einer Schreibtischschublade liegt ein Vorgang mit dem Titel „Vorschläge zur Effizienzsteigerung der Abteilung“, den er 1930 eingereicht hat – offensichtlich ohne Erfolg. Seither hat er das Engagement am Arbeitsplatz – und auch anderswo – eingestellt. Die Mitarbeiter sind nicht besser. Sie sorgen sich einzig um Schicklichkeit (als die einzige Kollegin einmal lacht, wird sie ermahnt: unangemessen!), den eigenen Aufstieg und ansonsten Ruhe an ihrem Pult.
Das Büro, in dem diese Gruppe von Menschen ihr Arbeitsleben fristet, ist eine kafkaeske, Terry-Gilliamsche[2] Hölle auf Erden. Sowohl der Bürger, der hier etwas vorbringen will, wie die Mitarbeiterin, der ihre natürliche Lebensfreude noch nicht abhandengekommen ist, scheitern an diesem Bollwerk, das sich nur selbst erhält.
Die Kollegin lacht über einen Witz, der in der Behörde die Runde macht, nun soll sie ihn laut vorlesen:
„So, Sie haben also niemals Urlaub genommen?“ – „Das ist richtig.“ – „Weil das Rathaus nicht ohne Ihre Arbeit auskäme?“ – „Nein, weil jeder bemerken würde, dass das Rathaus mich überhaupt nicht braucht.“
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Bullshit-Jobs: Vollkommen überflüssig
Bevor jetzt über das angeblich so faule Beamtentum gelacht wird: Der Ethnologe, Ökonomieprofessor und Occupy-Wall-Street-Mitbegründer David Graeber führt in seinem Buch „Bullshit-Jobs“ aus, dass es in unseren westlichen Wirtschaftssystemen erstaunlich viele Jobs gibt, die selbst ihre Stelleninhaber*innen für vollkommen überflüssig halten. Watanabe und seine Mitarbeiter gehören sicher dazu. Im realen Leben finden sich die wenigsten solcher Jobs in kommunalen Verwaltungen, wo Beschäftigte häufig vom Sinn ihrer Aufgabe überzeugt sind.
Es geht beim Bullshit Job nicht um das, was Dritte über den Job Anderer annehmen, sondern darum, wie die*der Stelleninhaber*in aus der Organisation heraus auf seine*ihre Tätigkeit blickt: Auf Arbeit, die sich nur selbst befeuert – zum Beispiel durch eine ausgeprägte Absicherungskultur und Hierarchien, die eingebunden werden müssen -, anstatt Mehrwert zu erzeugen.
Lesetipp: David Graber: Bullshit Jobs: Vom wahren Sinn der Arbeit. Klett-Cotta, als Taschenbuch Februar 2020.
Ein Interview mit David Graeber auf Spiegel Online. (02.10.2018, abgerufen 01.02.2020)
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Als Watanabe schließlich mit der Diagnose Magenkrebs im Endstadium konfrontiert wird[3], ist er erschüttert, gelähmt, schweigsam, und irrlichtert zunächst durch seine Tage. Der akribische Witwer hat keine enge Bindung zu seinem erwachsenen Sohn, überhaupt keine engen Freunde oder Freude im Leben. Aber zur Arbeit geht er jetzt nicht mehr. Er lässt sich durch die Tage und Nächte treiben, trinkt, singt, lernt Menschen kennen, macht neue Erfahrungen. Aber das alles ergibt für ihn noch keinen großen Sinn. Und nimmt ihm nicht die Angst vor dem Tod.
Sinn und eine Aufgabe findet er schließlich doch noch in seiner Arbeit, die so tot war. Ihm fällt die Gruppe Mütter ein, die einen Kinderspielplatz fordern, und denen bisher kein Mensch ernsthaft zugehört hat. Plötzlich ist er auf der Spur zu etwas Größerem. Jetzt, wo er begreift, dass er es zumindest versuchen kann und nichts zu verlieren hat, begibt er sich auf eine unterwürfige Betteltour durch Politik und Verwaltung. Er geht jeden Deal ein, und sei es mit einem korrumpierbaren Stadtrat, bindet alle ein, die hier bisher ein Hindernis darstellten. Am Ende wird der Spielplatz Realität und die Müttergruppe verehrt ihn als ihren Wohltäter.
Eine späte Lebenssinnerfahrung durch Selbstwirksamkeit am Arbeitsplatz.
Für wen?
- Beamt*innen und Angestellte im öffentlichen Dienst, insbesondere kommunale, bürgernahe Dienste;
- Ältere Beschäftige, die sich die Sinnfrage stellen;
- Berufsanfänger*innen, die jetzt die Weichen stellen können;
- Ärzt*innen, die traurige Diagnosen kommunizieren müssen.
Ikiru – Einmal wirklich leben. JPN, 1952. Regie: Akira Kurosawa.
Buch: Akira Kurosawa, Shinobu Hashimoto & Hideo Oguni
[1] Ein Beispiel: Wer in Berlin für die Einrichtung von Tempolimits zuständig ist, erklärt das Bezirksamt Mitte einem vorschlagenden Bürger so (via Tagesspiegel Checkpoint, https://checkpoint.tagesspiegel.de/langmeldung/5Ew5OVFQRb6wIXdNJLtV1U?utm_medium=social-button-article). Eine schöne Idee für eine alternative Antwort: https://twitter.com/BikerPankow/status/1171319608403550208
[2] „Brazil“ (GB/USA, 1985)
[3] Der Arzt konfrontiert ihn nicht damit, sondern ein Mitpatient weiß genau, was wolkige diagnostische Worte bedeuten. Der Arzt hingegen wiegt Watanabe in ein wohlwollendes „wird schon wieder“. Hier hat sich das ärztliche Selbstverständnis gewandelt.