Thatcher-England, 1988. Das britische Parlament bringt gerade ein neues Gesetz auf den Weg, Clause 28, das eine „Förderung“ von Homosexualität verbietet. Besonders betroffen sind öffentliche Einrichtungen wie kommunale Beratungsstellen und Schulen, an denen Homosexualität nun nicht mal mehr neutral thematisiert, geschweige denn gelebt werden darf.
Jean ist eine junge, lesbische Sportlehrerin, die in der nordenglischen Tyneside Teenager unterrichtet. Im Kollegium ist sie zurückhaltend, in der Turnhalle engagierter Profi, bei ihren Schülerinnen beliebt. Doch nur wenn sie am Wochenende in die Lesbenszene eintaucht, ihre Partnerin Viv und gemeinsame Freundinnen trifft, lebt sie auf und ist ganz sie selbst. Während ihre Freundinnen jedoch offen lesbisch leben – und womöglich mit allen beruflichen und gesellschaftlichen Repressalien –, weiß nur Jeans engste Familie Bescheid, einen stummen Vorwurf immer auf den Lippen. Den lauteren Vorwurf macht hingegen Viv, die sich durch Jeans Versteckspiel weggestoßen fühlt.
Für Jean scheint es zum Verheimlichen jedoch keine Alternative zu geben. War ihr Umfeld zuvor schon nicht lesben- und schwulenfreundlich, sind Schulen mit Clause 28 nun nachgerade verpflichtet, jedes Zeichen von Homosexualität zu unterbinden. Jean könnte ihren Job verlieren und womöglich nie wieder unterrichten dürfen.
In dieser Situation kommt die fünfzehnjährige Lois neu in Jeans Netball-Team. Anders als Jeans auf diesem Auge blinde Kolleg*innen in Bezug auf Jean spüren die Mitschüler*innen, dass Lois „anders“ ist; vor allem Mannschaftsstar Siobhan verhöhnt und bedrängt Lois immer öfter. Dann taucht Lois eines Abends in Jeans Lesbenbar auf; Jeans zwei Welten beginnen, sich zu vermischen. Erst ignoriert sie Lois, dann fordert sie sie auf, nie wieder in die Bar zu kommen – und sich auch in der Schule in Acht zu nehmen, zu ihrem eigenen Besten. Als Lois schließlich in der Schule fälschlich beschuldigt wird und keiner auch nur ihre Aussage hören will, könnte nur Jean sie retten.
Blue Jean ist ein zutiefst berührendes, atmosphärisch dichtes Porträt eines leisen Coming Outs in finsteren Zeiten. Es zeigt, wie Angehörige marginalisierter Gruppen die Wahl zwischen fight or flight treffen müssen, die sie viel mehr kostet als andere. Speziell im Beruf der Sportlehrerin, die mit pubertierenden Mädchen zu tun hat, schwingt durchgehend ein Anfangsverdacht mit, den es abzuwehren gilt: Jean hält sich deswegen bewusst fern von den duschenden Mädchen, will nicht mit einem von ihnen allein gesehen werden. Den Kolleg*innen, die freitags immer zusammen in den Pub gehen und die geschiedene Jean gerne mit einem der männlichen Lehrer verkuppeln wollen, gilt sie als suspekte Geheimniskrämerin. Die Schwester hätte den kleinen Neffen auch im Notfall nicht bei Jean übernachten lassen, wenn sie gewusst hätte, dass deren Geliebte auch dort war.
Kämpfe oder fliehe. Ist es Jeans Job, das Private zum Politischen zu machen?
Jean ist in ihrem „natürlichen Habitat“, in ihrer Szene, ein ganz anderer Mensch als in ihrem beruflichen und familiären Alltag. Wo sie dort lebhaft mittendrin ist, bleibt sie hier am Rand, hält sich zurück, äußert sich nicht zur allgegenwärtigen homofeindlichen Debatte um sie herum, bleibt aufs rein Fachliche begrenzt. Abgesehen davon, dass sie dies innerlich zerreißt, bleibt auch ihr volles Potenzial als Pädagogin, als Vorbild, ungenutzt, wenn sie ihr wahres Ich morgens an der Garderobe abgibt[1].
Das Langfilmdebüt von Georgia Oakley beleuchtet den inneren Konflikt, in den ein Mensch aufgrund seiner sexuellen Orientierung in allen möglichen Alltagssituationen geraten kann, allein, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Durfte? Clause 28 ist in Großbritannien erst 2003 außer Kraft gesetzt worden. In diese Zeit fällt die Verabschiedung mehrerer europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien, in Deutschland gilt seit 2006 das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das Europa- in Bundesgesetz überführte. Niemand darf heute aufgrund seiner*ihrer sexuellen Orientierung benachteiligt werden. Der zeitliche Abstand zum historischen Setting von Blue Jean in den 1980ern sollte uns indes nicht in der Sicherheit wiegen, dass heute alles in Butter wäre.
Für wen?
- Alle!
- Lehrer*innen, Bereichsleiter*innen, Schulleiter*innen;
- Beschäftigte aller Art, ob selbst marginalisiert oder nicht;
- Vorgesetzte;
- Schüler*innen.
Blue Jean. GB, 2022 (Kinostart in Deutschland 05.10.2023). Buch & Regie: Georgia Oakley
Aktuell noch in einzelnen Programmkinos. Wo sonst?
[1] Die Unternehmensinitiative Charta der Vielfalt e.V. kämpft genau dafür, dass im beruflichen Kontext alle Dimensionen der Vielfalt gesehen und respektiert werden – weil es ein Menschenrecht ist, aber eben auch der Wirtschaft nutzt.