À plein temps (2021)

Julie ist eine von Millionen Müttern (in Frankreich, in Deutschland), die sich entweder alleinerziehend um Kinder, Haus und Job kümmern oder den Löwenanteil der Care-Arbeit übernehmen. Und die gleichzeitig um eine berufliche Perspektive kämpfen, die mehr ist als nur Broterwerb. À plein temps ist für all sie. Deutscher Kinostart zum Internationalen Frauentag 2024.

Julie rast durch diesen Film. Sie rennt den Zügen und Bussen hinterher, die sie nur knapp erwischt oder: die gar nicht fahren. Sie rennt im frühmorgendlichen Dunkeln mit den Kindern aus dem Haus. Sie rennt durch die Straßen von Paris, durch das Hotel, in dem sie arbeitet, sie rennt und rennt, und beim Zusehen beschleunigt sich mit ihr unser Puls. Julie ist immer in Zeitnot, fast immer zu spät und im Laufe dieses Films zunehmend pleite, und ein ums andere Hindernis stapelt sich schier unüberwindbar in ihren Weg. Aber: sie gibt nicht auf. Sie hat ein Ziel.

Julie an ihrem Arbeitsplatz: Gerade erhält sie die Einladung zum 2. Vorstellungsgespräch für einen besseren Job. Morgen Nachmittag? Mais oui! N’est pas un problem! (c) À plein temps

Julie hat sich für ein Leben auf dem Lande außerhalb Paris‘ entschieden. Dieser Ort verspricht eine höhere Lebensqualität für ihre zwei Kinder als das praktische Leben in der Trabantenstadt, wie sie einmal gegenüber einer Kollegin meint (und der sie damit auf die Füße tritt). Der Ort liegt auch auf halbem Wege zwischen ihrem Arbeitsort in Paris und dem Wohnsitz ihres Ex-Partners, was den Wechsel der Kinder zwischen zwei Haushalten einfacher machen soll. Die Betonung liegt auf „soll“: Im Laufe der guten Woche, die die Filmhandlung umfasst, ist der Vater abwesend, ruft nicht zurück, auch nicht zum Geburtstag des Sohnes, hat seine Alimente nicht gezahlt, ist also überhaupt keine Hilfe für die zunehmend zum Äußersten getriebene Julie.

Für Julie ist dies nicht einfach eine Woche mit dem üblichen Gehetze. Sie muss die Kinder frühmorgens zur Nachbarin schaffen, ihren Zug in die Stadt erwischen und pünktlich an ihrem Arbeitsplatz erscheinen, einem Luxushotel, wo sie als Vorarbeiterin einer Riege von Zimmermädchen arbeitet. Das Tempo ist mörderisch, die Ansprüche hoch, und mit einer Zuarbeit für ihre Chefin, der Beurteilung der „Mädchen“, ist sie im Verzug.

Denn sie hat noch etwas anderes um die Ohren: Sie hat sich auf eine Stelle in einem Konzern beworben, die ihrer beruflichen Erfahrung und ihrem Uniabschluss in „Marktstudien“ besser entspricht und sie von ihren finanziellen Nöten erlösen soll. Der Haken daran: Das Vorstellungsgespräch ist am nächsten Nachmittag, wo sie arbeiten muss und sich nicht entschuldigen kann. Plus: Es ist Generalstreik in Paris. Züge und Busse nach und innerhalb von Paris fahren nicht, selbst Taxen sind nicht oder nur für viel Geld zu bekommen. Julie rennt, trampt, nutzt die Mitfahrgelegenheit mit dem Nachbarn aus dem Dorf. Sie bezirzt einen Kollegen, ihr unerlaubterweise ein Taxi zu besorgen, und Kolleg*innen, ihr frühes Gehen zu kompensieren oder gar zu vertuschen. Während sie versucht, für jede neue Herausforderung eine Lösung zu finden, und aus dem Chaos heraus zwei Vorstellungsrunden bewältigt, plant sie außerdem den Geburtstag ihres Sohnes am Samstag – inklusive Einladungen für die Schulfreunde und aufwändigem Geschenk, das auch erstmal in den Vorort kommen muss. Julie trägt nicht nur die mental load komplett allein, sondern die gesamte Ladung.

Heldin des Alltags

Ihr Umfeld zeigt dabei zunehmend weniger Verständnis für ihren Lebensentwurf: Die Nachbarin fühlt sich den Kindern langsam nicht mehr gewachsen und deren Tochter droht mit dem Jugendamt. Ob sich Julie zu fein für einen Job im örtlichen Supermarkt sei?[1] Julies Chefin scheint Freundin zu sein, aber Julie vertraut sich ihr nicht an, was ihre Zukunftspläne betrifft, und erntet umgekehrt auch kein Verständnis für ihr Zuspätkommen wegen des Streiks: Das Landleben und mithin die Pendelei seien Julies private Entscheidung, die anderen Kolleginnen wären ja genauso vom Streik betroffen. Die Bank will mit Julie über ihre ausbleibenden Zahlungen für die Hypothek sprechen.[2]

À plein temps funktioniert im Grunde wie ein Thriller ohne Mord und Totschlag. Mit Julie folgen wir einer Alltagsheldin, die förmlich jede wache Minute unter Strom steht. Julies Lebensentwurf scheint extrem, ihre Notlage irgendwie selbstverschuldet. Warum muss sie auch ein Haus kaufen? Warum so weit weg von Paris? Warum ist sie nicht in ihrem besser bezahlten Job geblieben? Was hat sie bei ihrer Partnerwahl falsch gemacht? Warum gibt sie ihr letztes Geld für ein Trampolin aus? Warum bringt sie ihre Kolleginnen in die Bredouille? Warum spricht sie nicht offen mit ihrer Chefin? Warum nimmt sie sich nicht frei? Aber wer sind wir, dass wir sie verurteilen könnten? Wir sind nicht in ihren Schuhen gelaufen.

Julie ist eine von Millionen Müttern (in Frankreich, in Deutschland, im Rest der Welt), die sich entweder alleinerziehend[3] um Kinder, Haus und Job kümmern oder den Löwenanteil der Care-Arbeit übernehmen. Und die gleichzeitig um eine berufliche Perspektive kämpfen, die mehr ist als nur Broterwerb. À plein temps ist für all sie.


Für wen?

  • Frauen, die die Care-Arbeit allein stemmen, oder so gut wie,
  • Mütter, Väter und alle, die sich um Kinder kümmern,
  • Frauen, die einen Plan haben und ihn durchziehen,
  • Menschen in der Bewerbungsphase,
  • Menschen, die in Kürze ein Vorstellungsgespräch haben,
  • Zimmermädchen und Hotelgäste,
  • Führungskräfte und Kolleg*innen aller Art.

À plein temps (Julie – Eine Frau gibt nicht auf[4]). Frankreich, 2021. Buch & Regie: Éric Gravel. Kinostart zum Frauentag: 7. März 2024

Trailer: À plein temps

[1] Der Rat einer Ahnungslosen: Auch Supermärkte brauchen gelernte Fachkräfte, nicht nur irgendwen. Und auch nicht immer. Das zeigt sich noch später im Film, als Julie, sich nicht „zu fein“, auch dies probiert.

[2] Wenig überraschend sind Alleinerziehende mit Abstand vor allen anderen Haushalten am meisten von Armut bedroht, weil sie oft nicht Vollzeit arbeiten können, weil die Kitabetreuung nicht ausreicht. https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-allein-mit-kind-macht-arm-8204.htm (abgerufen am 8. März 2024)

[3] 2022 gab es rund 1,57 Millionen Alleinerziehenden-Familien in Deutschland. Damit gab es in knapp jeder fünften Familie mit Kindern unter 18 Jahren (19 %) nur ein Elternteil. 85 % der Alleinerziehenden mit Kindern unter 18 Jahren sind Frauen. (Quelle: Destatis.de, abgerufen am 8. März 2024)

[4] Die deutsche Übersetzung des französischen Titels bedeutet „Vollzeit“. Aus unerfindlichen Marketing-Gründen lautet der deutsche Verleih-Titel anders. Vollzeit umreißt nicht allein die Zeit, die Julie bezahlt ihrem Broterwerb nachgeht. Er steht für die Zeit, die die Alleinerziehende Julie für ihre Existenz und die ihrer Kinder im Einsatz ist: Rund um die Uhr.

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